Neuland beginnt am Gartenzaun

Manche Menschen glauben, ihre Umgebung wie ihre Westentasche zu kennen. Das sind in der Regel dieselben Leute, die nicht wissen, wie viele Häuser es eigentlich in ihrer eigenen Straße gibt, weil sie jeden Tag exakt dieselbe Route zum Bäcker fahren – mit dem Auto natürlich. Wer sagt, er kenne „hier schon alles“, meint meist die drei Straßen zwischen Zuhause, Supermarkt und Arbeitsplatz. Der Rest? Terra incognita ohne WLAN.

Doch irgendwann kommt der Tag, da macht man sich Gedanken. Vielleicht ist das Benzin zu teuer, vielleicht hat man keine Lust mehr auf Lärmschutzwände in der Toskana, vielleicht wurde das Wohnmobil geklaut oder die Schwiegermutter hat wieder einen Pauschalurlaub vorgeschlagen. Was auch immer der Auslöser ist – plötzlich steht man da, in Radlerhose und mit der vagen Idee, dass man die Heimat mal ganz neu entdecken könnte. Mit dem Fahrrad. Freiwillig.

Das Fahrrad – ein Fortbewegungsmittel, das sich in idealer Geschwindigkeit bewegt, um die Schönheiten der Region nicht zu verpassen. Oder wenigstens die Löcher im Asphalt rechtzeitig zu erkennen. Man tritt also los, ohne Plan, ohne Hotelbuchung, ohne Packliste aus dem Internet. Die meisten Routen beginnen dabei mit einem Klick in eine App, die einem Touren vorschlägt, von denen man nicht wusste, dass sie existieren – etwa der „Streckenklassiker: Von Oberdinkelhausen zur Kläranlage Süd – auf Schotter, mit Steigungen, garantiert ohne Einkehrmöglichkeit“. Klingt romantisch. Ist es auch, wenn man das Wort weit genug dehnt.

Mit Glück entdeckt man auf diesen Touren neue Seiten der eigenen Heimat: verlassene Bushaltestellen mit Bank und schöner Aussicht auf das nächste Maisfeld. Ein Spielplatz, der scheinbar direkt in den 80ern stehen geblieben ist. Oder das Ortsschild von Hinterknopflingen, das selbst Google Maps resigniert ignoriert. Jeder Feldweg, den man noch nie gefahren ist, wird zur kleinen Expedition. Und wer besonders mutig ist, folgt einfach mal dem Wegweiser „Landwirtschaftlicher Verkehr frei“ – das ist quasi das Abenteuerland des Radwanderns.

Natürlich braucht man für so ein Abenteuer kein High-End-Gravelbike mit Carbonrahmen und 17 Anbauteilen. Wer sich auf der Tour nicht durch dreißig Gänge klicken möchte, nimmt einfach das Rad aus der Garage. Luft rein, Bremse drücken, Kette ölen (optional) – fertig ist das Entdeckerfahrzeug. Die Devise lautet: Nimm, was da ist. Je klappriger, desto besser, denn nichts sagt so sehr „authentisches Mikroabenteuer“ wie ein Sattel, der alle fünf Kilometer die Höhe wechselt.

Die wahren Highlights liegen jedoch nicht auf der Strecke, sondern am Wegesrand. Da ist unter anderem der Mann mit dem Aluhut, der dir erklärt, dass die Windräder in Wahrheit die Zugvögel fernhalten. Oder die Seniorin mit E-Bike und Einkaufskorb, die dich bergauf freundlich grüßt, während du mit Schweiß im Auge nach Luft japsst. Oder der Jäger, der fragt, ob du dich verlaufen hast, obwohl du auf einem offiziellen Radweg unterwegs bist. Begegnungen, die bleiben.

Und dann – plötzlich – stehst du auf einem Hügel, siehst runter ins Tal, wo du wohnst. Und denkst dir: Aha. Das ist also mein Zuhause. Irgendwie größer als gedacht. Irgendwie schöner. Und erstaunlich ruhig, wenn man den Verkehr hinter sich lässt. Vielleicht ist das der Moment, in dem man merkt: Reisen muss nicht immer Fernweh bedeuten. Manchmal reicht es, sich selbst ein wenig näherzukommen – indem man sich von der eigenen Haustür entfernt.

Nur ein kleiner Hinweis: Wenn du zurückkommst und jemand fragt, ob du verreist warst, sag einfach: „Ich war unterwegs.“ Das klingt mystisch und lässt Raum für Bewunderung. Niemand muss wissen, dass du eigentlich nur bis zur dritten Kreuzung nach dem letzten Gewerbegebiet gekommen bist.

Denn wie wir spätestens seit dieser Tour wissen: Neuland beginnt am Gartenzaun. Und endet irgendwo zwischen Matschweg und Maisfeld. Aber es war trotzdem verdammt schön.

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