Ich habe die Nachrichten an Heiligabend 2025 als verstörend empfunden. Nicht wegen einer einzelnen Meldung, sondern wegen der Richtung, die sich abzeichnet. Menschen widersprechen offensichtlichen Fakes, melden Hasskommentare oder unterstützen Betroffene digitaler Gewalt – Dinge, die in Europa unter Demokratie laufen und keiner gesonderten Erklärung bedürfen. Und plötzlich stellt man fest: Genau dieses Engagement kann inzwischen ausreichen, um politisch aufzufallen. Allerdings nicht in Brüssel. Sondern in Washington.
Meinungsfreiheit wird derzeit gern so ausgelegt, als müsse alles sagbar sein – unabhängig von Wirkung, Kontext oder Konsequenzen. Das ist kein Freiheitsideal, das ist ein bequemer Irrtum. In einem Rechtsstaat endet Meinungsfreiheit dort, wo Sprache zur Waffe wird: wo Menschen bedroht, entwürdigt oder gezielt eingeschüchtert werden. Das ist keine Zensur, sondern Schutz. Wer diese Grenze bewusst verwischt, schützt nicht den Diskurs, sondern diejenigen, die ihn zerstören.
Spätestens wenn Einreiseverbote gegen NGO-Leiterinnen verhängt werden und parallel offen über territoriale Ansprüche auf Grönland gesprochen wird, sollte klar sein: Hier geht es nicht um Einzelfälle, nicht um Empfindlichkeiten und schon gar nicht um den Schutz abstrakter Freiheitswerte. Es geht um Macht. Um die Frage, wer Regeln setzt, wer sie durchsetzt – und wer gefälligst stillzuhalten hat, wenn diese Regeln plötzlich politisch ausgelegt werden.
Besonders irritierend ist dabei nicht einmal die Härte des Vorgehens, sondern seine Logik. Demokratie wird nicht als universeller Wert verteidigt, sondern als Argument benutzt, wenn es passt – und ignoriert, wenn sie im Weg steht. Meinungsfreiheit wird beschworen, solange sie profitable Reichweiten erzeugt. Wird sie rechtlich eingehegt, heißt es plötzlich, sie sei in Gefahr. Dieses Freiheitsverständnis ist nicht liberal. Es ist opportunistisch.
Europa reagiert auf diese Entwicklung mit einer Mischung aus moralischer Selbstvergewisserung und technischer Ahnungslosigkeit. Man warnt vor geopolitischen Abhängigkeiten, beschwört digitale Souveränität – und überweist im nächsten Moment Milliarden an US-Konzerne. Besonders eindrucksvoll demonstriert das derzeit Bayern: Dort plant die Staatsregierung einen Cloud-Rahmenvertrag mit Microsoft in Milliardenhöhe ohne öffentliche Ausschreibung – ein Vorgang, der selbst wohlmeinende IT-Expert*innen fassungslos zurücklässt (siehe heise.de: Cloud-Zoff in Bayern wegen Milliardenauftrag an Microsoft ohne Ausschreibung). Während andernorts zumindest versucht wird, europäische oder offene Alternativen ernsthaft zu prüfen, inszeniert man in München digitale Abhängigkeit offenbar als Standortvorteil. Dass ausgerechnet der bayerische Weißwurstkasper dabei den Eindruck erweckt, digitale Souveränität sei ein folkloristisches Schlagwort für Sonntagsreden und Pressefotos, fügt sich nahtlos ins Bild: viel Pathos, wenig Ahnung, null strategische Verantwortung.
Ein Boykott amerikanischer Tech-Konzerne wäre dabei weder sinnvoll noch realistisch. Niemand muss sein Smartphone zertrümmern oder Google aus Prinzip falsch benutzen. Wer so argumentiert, verwechselt Symbolik mit Strategie. Entscheidend ist nicht der radikale Schnitt, sondern die schrittweise Rückgewinnung von Kontrolle. Nicht Abschottung, sondern Unabhängigkeit.
Und die ist überraschend unspektakulär. Sie beginnt mit eigenen Domains statt kostenloser Mailkonten. Mit europäischen Hostern statt transatlantischer Cloud-Abhängigkeiten. Mit eigenen Websites statt Plattform-Existenz, mit RSS statt Algorithmus, mit Inhalten, die einem selbst gehören. Keine Revolution, kein Pathos – eher ein stiller Umbau der eigenen digitalen Lebensrealität.
Auch Social Media verschwindet dabei nicht. Es verliert lediglich seine Rolle als Fundament. Plattformen werden wieder zu dem, was sie sein sollten: Verteilern, nicht Heimat. Wer Inhalte zuerst selbst veröffentlicht, verliert bei einer Sperre höchstens Reichweite – nicht seine Stimme.
Dieser Weg ist kein Akt des Widerstands, nicht einmal zwingend politisch motiviert. Er gleicht vielmehr dem digitalen Moment, in dem man erkennt, dass Erwachsenwerden bedeutet, die eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln – nicht aus Misstrauen, sondern aus Selbstachtung.
Digitale Unabhängigkeit ist kein Luxusprojekt für Idealisten. Sie ist eine Vorsichtsmaßnahme in einer Welt, in der Macht zunehmend über Infrastruktur ausgeübt wird. Wer sich für Demokratie, Rechtsstaat und einen zivilen digitalen Raum engagiert, sollte nicht darauf hoffen müssen, dass Großmächte das schon wohlwollend zur Kenntnis nehmen.
Und falls doch:
Das Internet funktioniert auch ohne ESTA (Electronic System for Travel Authorization) – jenes elektronisches Einreisesystem der USA, das offiziell der Sicherheit dient und praktisch zeigt, wie unkompliziert politische Missbilligung administrativ umgesetzt werden kann.

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