Warum visuelle Beweise auf Social Media kein Beweis sind!
Das Bild als Propaganda-Werkzeug
Es war einmal ein Video. Es zeigte einen russischen Supermarkt. Regale voll. Farben satt. Menschen, die lächelten. Kein Krieg, kein Mangel, keine Krise. Nur: Wohlstand. Die Botschaft? Russland geht’s blendend – danke der Nachfrage, liebe westliche Propaganda.
Willkommen im digitalen Schaufenster der Suggestion, wo einzelne Frames zu Weltbildern werden und ein Einkaufsgang zur geopolitischen Offenbarung stilisiert wird. Besonders beliebt bei jenen, die der Realität ohnehin nur dann Glauben schenken, wenn sie sich in ihrer Telegram-Timeline wiederfindet. Die Strategie ist klar: Bilder erzeugen Emotionen. Und wo Emotion herrscht, ist Argumentation oft überflüssig. Oder besser: unerwünscht.
Von der Kamera zur kognitiven Verzerrung
Ein voller Supermarkt kann vieles sein – eine Momentaufnahme, eine Inszenierung, eine 3D-Visualisierung. Aber eines ist er ganz sicher nicht: ein stichhaltiger Beweis für politische oder ökonomische Zustände eines Landes. Besonders nicht, wenn das Bildmaterial aus zweifelhaften Quellen stammt oder der Kontext gezielt weggelassen wurde.
Doch genau das ist die Taktik. Einzelne Bilder oder Videos werden ohne Einordnung verbreitet – oftmals mit hämischen Kommentaren à la „Das zeigen dir die Mainstreammedien nicht!“ oder „So sieht es im dekadenten Westen NICHT aus!“. Als ob sich die globale Wahrheit zwischen Kühlregal und Tiefkühlpizza offenbart.
Die Methode ist dabei so simpel wie wirkungsvoll: Vertrauen untergraben, Zweifel säen, ein alternatives Weltbild präsentieren – eines, das sich gegen die „verlogene Elite“ richtet. KI-gestützte Bildbearbeitung? Deepfake-Technologie? Komplexe Produktionsbedingungen? Spielt alles keine Rolle, wenn man bereits entschieden hat, was wahr ist. Willkommen im postfaktischen Panoptikum.
Fazit: Wenn Beweise keine mehr sind
Was früher „Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen“ hieß, ist heute bestenfalls ein Screenshot aus einem zweifelhaften Video. Glaubwürdigkeit hat im Netz keine Verbindung mehr zur Realität, sondern zur Reichweite. Die Lüge braucht keine Beweise – nur einen Algorithmus, der sie oft genug zeigt.
Gerade autoritäre Ideologen nutzen diese Dynamik gezielt: Sie erzeugen visuelle „Belege“, um Unsicherheit zu stiften und sich selbst als Retter in einer vermeintlich verkommenen Welt zu inszenieren. Die Folge? Eine kollektive Desorientierung, bei der Fakten zu Meinungen verkommen – und Meinungen zu absolutem Anspruch auf Wahrheit.
Wer in dieser neuen Bildwelt bestehen will, braucht mehr als gesunden Menschenverstand. Er braucht Medienkompetenz. Und gelegentlich den Mut, einen vollen Supermarkt einfach nur als das zu sehen, was er ist: ein Ort, an dem du Brot, Butter und ein bisschen Täuschung kaufen kannst.